Der Mitternachts-Zug
Die Uhr zeigte exakt 23:58, als Lara fröstelnd am Bahnsteig des kleinen, verlassenen Bahnhofs stand. Die Nacht war pechschwarz, ohne Mond und Sterne, und der kalte Wind schien durch ihre Kleidung hindurchzuschneiden. Der Bahnhof war menschenleer, und die Straßenlaternen flackerten schwach, als kämpften sie gegen die Dunkelheit an. Lara zog ihren Mantel enger um sich und fragte sich erneut, warum sie sich von ihrem Chef zu dieser späten Geschäftsreise hatte überreden lassen.
Der Zug, den sie nehmen sollte, war nicht im offiziellen Fahrplan verzeichnet. Eine Kollegin hatte ihr von diesem ominösen Mitternachts-Zug erzählt – ein Sonderzug, der angeblich für Leute reserviert war, die „dringend irgendwo hinmüssen“. Lara hatte nicht viel darauf gegeben, bis ihr Chef ihr eine Fahrkarte in die Hand gedrückt und sie angewiesen hatte, ihn zu nehmen.
Die elektronische Anzeige wechselte auf 00:00, und ein seltsames Dröhnen erfüllte die Luft. Es war ein tiefes, pulsierendes Geräusch, das durch Mark und Bein ging. Die Gleise begannen zu vibrieren, als ein Zug langsam in den Bahnhof einfuhr. Sein Äußeres war schwarz wie die Nacht, mit silbernen Verzierungen, die im flackernden Licht unnatürlich schimmerten. Die Fenster waren dunkel; kein Licht drang aus dem Inneren.
Ein eisiger Hauch umspielte Lara, als sich die Türen des Zuges mit einem leisen Zischen öffneten. Zögernd trat sie ein. Der Innenraum war überraschend luxuriös: Samtrote Polster, goldene Verzierungen, und ein schwaches, warmes Licht, das von altmodischen Kronleuchtern ausging. Doch etwas stimmte nicht. Der Zug roch nach Verfall – eine Mischung aus modrigem Holz und etwas Metallischem, das ihr bekannt vorkam, aber nicht einzuordnen war. Blut?
Die Türen schlossen sich hinter ihr mit einem dumpfen Knall, und der Zug setzte sich in Bewegung. Lara suchte nach Mitreisenden, aber der Waggon war leer. Sie ließ sich auf einen Sitz fallen, als plötzlich eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern dröhnte:
„Willkommen an Bord. Bitte halten Sie Ihre Fahrkarte bereit. Dies ist der letzte Zug.“
Die Worte klangen merkwürdig, beinahe wie ein Flüstern, das sich in ihrem Kopf widerhallte. Lara spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie griff nach ihrer Fahrkarte, nur um festzustellen, dass die Schrift darauf zu verschwimmen begann. Buchstaben wanderten über das Papier, formten Worte, die keinen Sinn ergaben. Dann, plötzlich, las sie:
„Endstation: Dein Schicksal.“
Panik kroch in ihr hoch. Sie sprang auf und lief durch den Waggon, um nach jemandem zu suchen – einem Schaffner, einem anderen Passagier, irgendjemandem. Doch als sie durch die Verbindungstür zum nächsten Abteil trat, fror sie. Der Waggon war identisch mit dem, den sie gerade verlassen hatte. Sogar ihre Tasche lag auf dem Sitz, als hätte sie den Raum nie verlassen.
„Das ist nicht möglich“, murmelte sie. Ihre Stimme hallte seltsam hohl in der Stille wider.
Wieder hörte sie das Dröhnen aus den Lautsprechern:
„Wir bitten alle Passagiere, ruhig zu bleiben. Der Mitternachts-Zug bringt Sie sicher an Ihr Ziel.“
Eine schrille Lache durchbrach die Ansage, eine Geräuschkulisse aus Wahnsinn und Verzweiflung. Lara stolperte rückwärts und prallte gegen eine Gestalt. Sie drehte sich um – ein Schaffner stand vor ihr, hochgewachsen, sein Gesicht von einem grotesken Lächeln verzerrt. Seine Uniform war makellos, aber seine Augen waren leer, nur zwei schwarze Löcher in einem bleichen Gesicht.
„Ihre Fahrkarte, bitte“, sagte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als würde sie direkt aus ihrem Kopf kommen.
Laras Hände zitterten, als sie ihm das Ticket reichte. Der Schaffner betrachtete es und lächelte noch breiter. „Ah, ein One-Way-Ticket. Willkommen an Bord.“
Dann zerriss er die Fahrkarte in kleine Stücke, die sich in der Luft auflösten wie Asche. Lara wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. Der Schaffner deutete auf einen der Sitze. „Bitte, setzen Sie sich. Wir haben noch einige Meilen vor uns.“
Die Zeit im Zug war ein Alptraum. Lara verlor jedes Gefühl für die Dauer der Fahrt. Die Fenster zeigten nichts als pechschwarze Leere. Die Kronleuchter flackerten gelegentlich und warfen zuckende Schatten an die Wände, die sich bewegten, als hätten sie ein Eigenleben. Gelegentlich hörte sie Schritte hinter sich, aber als sie sich umdrehte, war niemand da.
Irgendwann hielt der Zug abrupt an. Die Lautsprecher knackten.
„Endstation. Bitte steigen Sie aus.“
Die Türen öffneten sich, und eine eisige Dunkelheit strömte herein. Lara zögerte, aber der Schaffner stand plötzlich hinter ihr, seine kalten Hände schoben sie sanft, aber unnachgiebig aus dem Zug. Sie stolperte ins Freie und fiel auf etwas Weiches – Erde, oder etwas, das sich wie Erde anfühlte.
Sie stand auf und sah sich um. Sie war auf einem verlassenen Bahnsteig, umgeben von dichtem Nebel. Der Zug war verschwunden, und sie war allein. Doch dann hörte sie Schritte. Langsame, schwere Schritte, die sich näherten. Schatten tauchten im Nebel auf – Gestalten, die aussahen wie Menschen, aber ihre Bewegungen waren falsch, ruckartig, fast wie Marionetten.
Eine Stimme erklang hinter ihr, dieselbe blecherne Stimme aus dem Zug:
„Willkommen, Passagierin. Dein Schicksal erwartet dich.“
Die Schatten kamen näher, und Lara wollte wegrennen, doch ihre Beine bewegten sich nicht. Sie stand wie angewurzelt, während die Gestalten sie umringten. Ein schrilles Lachen durchdrang die Stille, und das Letzte, was sie hörte, war das Kreischen von Metall auf Metall, als der Zug wieder auftauchte – nicht, um sie zu retten, sondern um sie zu holen.
Der Mitternachts-Zug fährt immer pünktlich. Und er lässt niemanden zurück.
Kommentare:
GhostHunter99: Ich war letzte Woche am Bahnhof von Schwarzenfeld... die Uhr tickt wirklich!
DarkReader: Eine der besten Geschichten, die ich hier je gelesen habe. Der Twist am Ende...
ShadowSeeker: Hat jemand die alten Zeitungsberichte über das Unglück von 1974 gefunden?